Die Sprache des Materials mit Rolf Stieger

Dass die Realbegegnung bei Schülern soviel mehr auslöst als alle Theorie, ist eine pädagogische Binsenweisheit. Und sie hat sich im Grundkurs Kunst des letzten Abiturjahrgangs (Leitung: Heidrun Kremser) eindrucksvoll bestätigt.
Richtig überzeugt waren dessen Schüler/innen von der Bedeutung des Abstrakten in der Malerei nämlich noch nicht, als sie sich zum Besuch im Atelier des Malers Rolf Stieger aufmachten. Cezanne, Kandinsky – vor allem Mondrian – mit einer gehörigen Portion Skepsis hatten sie auf die Arbeiten dieser Meister der Moderne reagiert.
Nun sollten sie einem lebenden Maler bei der Arbeit über die Schulter gucken. Rolf Stieger hatte sich bereit erklärt, uns in seinem Atelier in der Greflinger Straße zu empfangen und vor den Augen der Schüler die ersten Schritte seines Bildfindungsprozesses zu realisieren.
Als Gastgeschenk hatten wir alten Entwickler aus unserer Schuldunkelkammer mitgebracht – und das hatte seinen Grund:
Das Material, das Rolf Stieger bei seiner Malerei verwendet, ist recht unkonventionell: Montageschaum, Bitumen, Beize – und eben alter Fotoentwickler. Schon diese Aufzählung lässt erahnen, dass Rolf Stieger in seiner Malerei nicht die üblichen Wege geht. Experiment und Zufall spielen bei ihm eine wichtige Rolle.
Der weitgehend ungesteuerte Auftrag der Materialien bildet den Ausgangspunkt seiner Arbeit. Die so entstandenen Strukturen geben Impulse für das weitere Vorgehen. Das Motiv entwickelt sich in einem Prozess wiederholter Überarbeitung, in dem Farben und Materialien aufgetragen, aber auch übermalt und wieder abgetragen werden. Verschiedene Bildschichten überlagern sich, werden getilgt und neu aufgebaut. Dieser fast zerstörerisch wirkende Arbeitsprozess hinterlässt Spuren auf der Bildoberfläche und gibt ihr einen eigenen Reiz.
Aus Material und Farben entstehen so Bildlandschaften, die spannungsvoll zwischen Abbildung und Abstraktion changieren. Rolf Stieger selbst sagt: „Es ist schwer zu entscheiden, ob das Dargestellte, also der Inhalt des Bildes, oder das Gemachtsein Gegenstand der Malerei ist.“

Mit großer Offenheit begegneten die Schüler Rolf Stieger – und mit Neugier und Ausdauer verfolgten sie, wie er an die Arbeit ging: Cemre durfte sogar dabei helfen, Bauschaum auf die Leinwände aufzubringen. In einem zweiten Schritt folgten die sogenannten „Schüttungen“: Fotoentwickler und Farben wurden auf die Fläche gekippt, die Leinwände wurden bewegt, sodass die Farben verliefen – das stank nicht nur, sondern erzeugte eigenartig marmorierte Effekte auf der Fläche.
Hier wurde mit dem Zufall gespielt, und doch war für alle zu erkennen, dass nichts „irgendwie“ geschah, sondern mit aller Konzentration und fein gespitzten Sinnen.
Als wir uns nach eineinhalb Stunden verabschiedeten, hinterließen wir einen erschöpften, aber zufriedenen Künstler. Auch ihm hatte der Austausch Spaß gebracht. Und für die Schüler war klar: „Wir wollen auch mit Bauschaum arbeiten! – Wir wollen auch Schüttungen machen!“ Diesem Auftrag folgend zog ich also in den Baumarkt, um mich für ein Malprojekt der etwas anderen Art auszurüsten – einem Projekt, das auch für mich ein Experiment war.

Was in den nächsten Wochen folgte, hätte ich so nicht erwartet. Voller Tatendrang stürzten sich die Schüler in die Arbeit – und bewiesen dabei nicht nur sehr viel Mut, sondern arbeiteten auch mit einem Elan und einer Entscheidungsklarheit, die mich überraschte. Denn die Aufgabe, auf einem Format von 80x100cm (!) mit den Mitteln von Farbe und Form dem Gefühl Ausdruck zu verleihen, das sich beim Gedanken an die Zeit nach dem Abitur einstellt, war ja nicht gerade einfach. Und doch entwickelten sich hier sehr genaue Vorstellungen – und ganz individuelle Arbeitsansätze. Es wurde gekleistert, gestrichen, gekleckert, geschüttet, geritzt und geschabt – und jeder war auf der Suche nach seinem ganz eigenen Weg.
Es war eine Freude, den Schülern bei der Arbeit zuzusehen – und gemeinsam mit ihnen, in intensiven Gesprächen auf absoluter Augenhöhe zu erforschen, was da gerade auf der Fläche geschah – und ob es dem entsprach, was sie zum Ausdruck bringen wollten. Da ging es nicht um Belehrungen, da ging es nicht um richtig und falsch, es ging einfach darum, zusammen etwas zu erfahren und zu entwickeln. Manchmal gibt es keinen schöneren Beruf als den einer Kunsterzieherin…

Die Ergebnisse der Arbeit waren so überzeugend, dass wir beschlossen, sie gemeinsam mit den Bildern Rolf Stiegers in der Galerie! zu zeigen. Natürlich war bei genauem Hinsehen schon ein kleiner Unterschied zwischen „Meister“ und „Schülern“ auszumachen, aber am Eröffnungsabend konnten sich die Schüler mit Recht doch schon fast wie Künstler fühlen. Ein klein wenig Stolz war ihnen also anzumerken, als sie den Gästen ihre Arbeiten erläuterten oder zusammen mit Rolf Stieger vor den Bildern standen, um mit ihm zu fachsimpeln.
Und dann sagte Sureiya ganz nebenbei: „Irgendwie habe ich jetzt einen ganz anderen Zugang zu abstrakter Kunst. Am Anfang habe ich mich bloß gefragt, was das soll, und jetzt merke ich, was man damit alles ausdrücken kann.“
– Vielen Dank, Herr Stieger!